26. Kapitel: Ein Geschenk für den Piloten

Übersetzung ins Deutsche von Alexander Varell

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Neben dem Brunnen stand die Steinmauer einer alten Ruine. Als ich am nächsten Abend von meiner Arbeit zurückkehrte, sah ich aus der Ferne meinen kleinen Prinzen da sitzen, wie er die Beine baumeln ließ. Und ich hörte, wie er sagte:

  • »Du erinnerst dich also nicht mehr?«, sagte er. »Es war nicht ganz hier!«

Ohne Zweifel antwortete ihm eine andere Stimme, denn er sagte:

  • »Ja! Ja! Es ist der Tag, aber dies ist nicht der Ort …«

Ich führte meinen Weg der Wand entgegen fort. Ich glaubte, weder jemanden zu sehen, noch zu hören. Doch der kleine Prinz antwortete wieder:

  • »Natürlich. Du wirst sehen, wo meine Spur im Sand beginnt. Warum wartest du dort nicht auf mich. Ich werde heute Abend da sein.«

Als ich zwanzig Meter vor der Wand war, sah ich immer noch nichts.

Nach einer Weile sprach der kleine Prinz erneut:

  • »Du hast gutes Gift? Bist du sicher, dass ich nicht lange leiden werde?«

Ich blieb mit schwerem Herzen stehen, aber ich verstand noch immer nicht.

  • »Geh jetzt weg«, sagte er, »ich möchte herunterkommen!«

Ich heftete meine Augen an die Wand und machte einen gewaltigen Sprung! Da war, zum kleinen Prinzen empor gereckt, eine jener gelben Schlangen, die dich in nur dreißig Sekunden töten können. Ich grub in meiner Tasche nach meinem Revolver und rannte los. Doch bei dem Lärm, den ich machte, sank die Schlange wie ein sterbender Wasserstrahl in den Sand und ohne jede Eile schlüpfte sie mit einem leicht metallischen Klang zwischen den Steinen hindurch.

Der kleine Prinz auf der Mauer spricht mit der Schlange

Gerade noch rechtzeitig erreichte ich die Wand, um den kleinen Prinzen mit den Armen aufzufangen, er war bleich wie Schnee.

  • »Was ist das für eine Geschichte! Redest du jetzt mit Schlangen!«

Ich hatte ihm seinen goldenen Schal abgenommen. Ich hatte ihm die Schläfen benetzt und zu trinken gegeben. Und jetzt wagte ich nicht, ihn weiter zu fragen. Er schaute mich ernst an und legte mir seinen Arm um meinen Hals. Ich spürte, sein Herz schlug wie das eines sterbenden Vogels, der von einem Gewehr getroffen wurde. Er sagte:

  • »Ich bin froh, dass du den Fehler in der Maschine gefunden hast. Du kannst jetzt nach Hause zurückkehren …«
  • »Woher weißt du das!«

Ich wollte ihm gerade erzählen, dass ich gegen alle Hoffnung meine Arbeit beenden konnte!

Er beantwortete meine Frage nicht, aber er fügte hinzu:

  • »Auch ich werden jetzt nach Hause kommen …«

Dann schwermütig:

  • »Das ist viel weiter … Es ist viel schwieriger …«

Ich spürte, dass etwas Besonderes geschah. Ich schloss ihn fest in meine Arme wie ein Kind, und doch schien es mir, als rauschte er kopfüber in einen Abgrund, wovor ich ihn nicht bewahren konnte … Er hatte einen ernsten Blick, der sich in der Weite verlor:

  • »Ich habe dein Schaf. Und ich habe die Kiste für das Schaf. Und ich habe den Maulkorb …«

Da lächelte er schwermütig.

Ich wartete eine lange Zeit. Ich spürte, wie er sich mehr und mehr erwärmte:

  • »Kleiner Mann, du hast Angst gehabt …«

Er hatte Angst, natürlich! Aber er lachte leicht:

  • »Ich werde noch viel mehr Angst haben heute Abend …«

Bei dem Gefühl des Unvermeidlichen lief es mir eisig über den Rücken. Dieses Lachen nie mehr zu hören, ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Für mich war es wie ein Brunnen in der Wüste.

  • »Kleiner Mann, ich will dich immer noch lachen hören …«

Aber er sagte:

  • »Heute Abend wird es ein Jahr sein. Mein Stern befindet sich dann direkt über dem Ort, wo ich im vergangenen Jahr abstürzte …«
  • »Kleiner Mann, ist das nicht nur ein böser Traum mit dieser Schlange und der Abmachung und dem Stern …«

Aber er beantwortete meine Frage nicht. Er sagte:

  • »Was wichtig ist, sieht man nicht …«
  • »Natürlich …«
  • »Es ist wie mit der Blume. Wenn du eine Blume liebst, die auf einem Stern wohnt, dann ist es schön, in der Nacht den Himmel zu beobachten. Alle Sterne haben Blumen.«
  • »Natürlich …«
  • »Es ist wie beim Wasser. Das, was du mir zu trinken gabst, war wie Musik, die Seilwinde und das Seil … Du erinnerst dich … Es war gut.«
  • »Natürlich …«
  • »Du wirst in der Nacht die Sterne betrachten. Mein Stern ist zu klein, um ihn dir zeigen zu können. Es ist besser so. Mein Stern wird für dich einer dieser Sterne sein. So wirst du alle Sterne gern betrachten … Sie werden alle deine Freunde sein. Und dann werde ich dir ein Geschenk machen …«

Er lachte wieder.

  • »Ah! Kleiner Mann, kleiner Mann, ich liebe es, dieses Lachen zu hören!«
  • »Genau das ist mein Geschenk … Es wird sein wie Wasser …«
  • »Was meinst du damit?«
  • »Die Leute haben ihre Sterne, für jeden sind sie anders. Für manch Reisenden sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts anderes als kleine Lichter. Und wieder andere, für die Gelehrten, sind sie Probleme. Für meinen Geschäftsmann waren sie Gold. Aber alle diese Sterne schweigen. Du aber, du wirst Sterne haben wie niemand anderes …«
  • »Was meinst du?«
  • »Wenn du in der Nacht den Himmel betrachtest, weil ich auf einem von ihnen wohne, dann wird es für dich so sein, als ob alle Sterne lachten, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein hast Sterne, die lachen können!«

Und er lachte wieder.

  • »Und wenn du dich getröstet hast (man tröstet sich immer), wirst du froh darüber sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst mit mir lachen. Und du wirst manchmal dein Fenster öffnen, einfach so, zum Vergnügen … Und deine Freunde werden sehr erstaunt sein zu sehen, wie du lachst, wenn du deine Blicke auf den Himmel richtest. Dann sagst du: ›Ja, die Sterne bringen mich immer zum Lachen!‹ Und sie werden dich für verrückt halten. Dann werde ich dir einen schönen Scherz bereitet haben …«

Und er lachte wieder.

  • »Es wird sein, als hätte ich dir nicht die Sterne geschenkt, sondern kleine Glocken, die lachen können …«

Und er lachte wieder. Dann wurde er ernst:

  • »Heute Nacht … du weißt schon … komme nicht.«
  • »Ich will dich nicht verlassen.«
  • »Ich werde aussehen, als hätte ich Schmerzen … Es würde ein wenig so aussehen, als ob ich stürbe. Es ist so. Komme nicht es anzusehen, es lohnt sich nicht …«
  • »Ich will dich nicht verlassen.«

Aber er sorgte sich.

  • »Ich sage dir das … Es ist auch wegen der Schlange. Sie soll dich nicht beißen … Schlangen sind böse. Sie beißen aus reiner Wollust …«
  • »Ich will dich nicht verlassen.«

Aber etwas beruhigte ihn:

  • »Es ist wahr, dass sie für einen zweiten Bissen kein Gift mehr haben …«

In dieser Nacht bemerkte ich nicht, wie er losging. Er verschwand völlig lautlos. Als es mir gelang, ihn einzuholen, ging er mit schnellen Schritten weiter. Er sagte mir nur:

  • »Ah! Du bist hier …«

Da nahm er mich bei der Hand. Aber er war immer noch voller Sorge:

  • »Das ist falsch von dir. Es wird dir Leid zufügen. Ich werde aussehen, als sei ich tot, doch es wird nicht wahr sein …«

Ich schwieg.

Der kleine Prinz steht in der Wüste

  • »Du verstehst doch. Es ist zu weit. Ich kann diesen Körper nicht mitnehmen. Er ist zu schwer.«

Ich schwieg.

  • »Mein Körper wird hier bleiben wie eine alte verlassene Hülle. Man muss nicht traurig sein wegen solch alter Hüllen …«

Ich schwieg.

Er war ein wenig entmutigt. Aber er gab sich weiter Mühe:

  • »Weißt du, es wird schön sein. Auch ich freue mich auf die Sterne. Alle Sterne werden Brunnen für mich sein mit einer verrosteten Winde. Alle Sterne werden mir einen Trank zureichen …«

Ich schwieg.

  • »Das wird viel Spaß machen! Du wirst fünfhundert Millionen Glocken haben, ich werde fünfhundert Millionen Brunnen haben …«

Und er schwieg, denn er weinte …

  • »Da ist es. Lass‘ mich noch einen Schritt allein gehen.«

Und er setzte sich, weil er Angst hatte.

Der kleine Prinz setzt sich und betrachtet die Sterne

Er sagte:

  • »Weißt du … meine Blume … Ich bin für sie verantwortlich! Und sie ist so schwach! Und sie ist so einfältig. Sie hat vier Dornen, die sie nicht gegen die Welt schützen können …«

Ich setzte mich, weil ich nicht mehr stehen konnte. Er sagte:

  • »Hier … Das ist alles …«

Er wartete noch ein wenig, dann stand er auf. Er machte einen Schritt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Es war nichts als ein gelber Blitz an seinem Knöchel. Er blieb für einen Moment still stehen. Er weinte nicht. Er fiel sachte wie das Blatt eines Baumes. Nicht einmal ein Geräusch machte es, als er in den Sand fiel.

Der kleine Prinz fällt lautlos in den Sand

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