7. Kapitel: Der Sinn von Dornen

Übersetzung ins Deutsche von Alexander Varell

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Am fünften Tag verhalf mir wieder das Schaf dabei, ein weiteres Geheimnis aus dem Leben des kleinen Prinzen zu entlocken. Plötzlich, ohne Umschweife fragte er mich, als pflückte er die Frucht eines lange schweigend überlegten Problems:

  • »Ein Schaf, wenn es Sträucher frisst, frisst es auch Blumen?«
  • »Ein Schaf frisst alles, was es sieht.«
  • »Auch Blumen, die Dornen haben?«
  • »Ja, auch Blumen, die Dornen haben.«
  • »Wofür sind dann die Dornen?«

Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte gerade sehr damit zu tun, einen zu fest gezogenen Bolzen von meinem Motor abzubekommen. Es machte mir große Sorgen, meine Panne wurde mir immer bedenklicher, und das Schlimmste dabei war, dass mein Trinkwasser zur Neige ging.

  • »Wofür sind Dornen gut?«

Der kleine Prinz vergaß nie eine Frage, wenn er sie gefragt hatte. Ich war ganz mit meinem Bolzen beschäftigt und sagte einfach irgendetwas:

  • »Die Dornen haben gar keinen Zweck, das ist reine Bosheit der Blumen!«
  • »Oh!«

Nach einer Weile wendete er sich mit einer bestimmten Art von Empörung an mich:

  • »Ich glaube dir nicht! Blumen sind schwach. Sie sind einfältig. Sie schützen sich, so gut sie können. Sie glauben, dass ihre Dornen abschrecken …«

Ich schwieg. In diesem Moment dachte ich mir: »Wenn dieser Bolzen jetzt nicht nachgibt, muss ich ihn mit einem Hammer herausschlagen.« Da unterbrach mich der kleine Prinz erneut in meinen Gedanken:

  • »Glaubst du wirklich, dass Blumen …«
  • »Nein! Aber nein! Ich glaube nichts. Ich habe das nur so gesagt. Ich habe nur gerade wichtigere Dinge zu tun!«

Er sah mich erstaunt an.

  • »Wichtigere Dinge!«

Er sah mich an, wie ich mich mit meinem Hammer in der Hand und mit schwarzen Fingern voller Schmierfett über etwas beugte, was ihm sehr hässlich erscheinen musste.

  • »Du redest ja wie die großen Leute!«

Das beschämte mich ein wenig. Erbarmungslos fügte er hinzu:

  • »Du verdrehst alles … Du bringst alles durcheinander!«

Er war wirklich sehr verärgert. Er schüttelte seine goldenen Locken im Wind.

  • »Ich kenne einen Planeten, auf dem ein Herr mit einem roten Gesicht wohnte. Noch nie hatte er an einer Blume gerochen. Noch nie hatte er einen Stern gesehen. Er hatte noch niemanden geliebt. Nie hatte er etwas anderes getan als rechnen. Und jeden Tag sagte er wie du: »Ich bin ein ernsthafter Mann! Ich bin ein ernsthafter Mann!« Vor lauter Stolz war er schon ganz angeschwollen. Aber dies ist kein Mann, das ist ein Pilz!«
  • »Ein was?«
  • »Ein Schwammpilz!«

Der kleine Prinz schäumte jetzt vor Wut.

  • »Seit Millionen von Jahren wachsen den Blumen Dornen. Seit Millionen von Jahren werden diese Blumen dennoch von Schafen gefressen. Und für dich ist es nicht wichtig, wenn man verstehen möchte, warum sie sich so viel Mühe geben, Dornen wachsen zu lassen, die zu nichts gut sind? Ist der Kampf zwischen den Schafen und den Blumen etwa nicht wichtig? Ist das nicht genauso ernsthaft und wichtig wie die Berechnungen des aufgeblasenen, roten Mannes? Und wenn ich eine Blume kenne, die einzig ist in der Welt, die es nirgendwo anders gibt als auf meinem Planeten, und wenn ein kleines Schaf eines Morgens diese Blume mit einem einzigen Bissen vernichten kann, ohne zu wissen, was es tut, ist das etwa nicht wichtig!«

Er errötete und fuhr weiter fort:

  • »Wenn jemand eine Blume liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf all den Millionen und Millionen Sternen, dann macht es ihn glücklich, nur wenn er sie ansieht. Er sagt sich: ›Meine Blume ist irgendwo da draußen …‹ Wenn das Schaf aber die Blume frisst, dann ist das für ihn, als gingen plötzlich alle Sterne aus! Und das soll nicht wichtig sein!«

Er konnte nichts mehr sagen. Denn er brach plötzlich in Tränen aus. Es war Nacht geworden. Ich legte meine Werkzeuge beiseite. Mein Hammer, mein Bolzen, Durst und Tod waren mir gleichgültig. Es war auf einem Stern, einem Planeten, meinem Planet, auf der Erde, auf der ein kleiner Prinz getröstet werden musste! Ich nahm ihn in die Arme. Ich wiegte ihn. Ich sagte: »Die Blume, die du liebst, ist nicht in Gefahr … Ich zeichne dir einen Maulkorb für dein Schaf … Ich werde dir für deine Blumen einen Zaun zeichnen … ich …« Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte. Ich fühlte mich äußerst verlegen. Ich wusste nicht, wie man ihn erreichen konnte … Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen.

Die vorliegende Übersetzung ist urheberrechtlich geschützt. Der Gebrauch des Textes ist ausschließlich für private Zwecke, für eine nichtkommerzielle Nutzung gestattet. Eine kommerzielle Nutzung der Inhalte ganz oder in Teilen ist ausgeschlossen und ist nur nach ausdrücklich schriftlicher Genehmigung des Urhebers gestattet.

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